Fokus Ost


Zurück in die Zukunft.
Mai 9, 2008, 8:39 am
Filed under: Archiv 2007

Tatarstanische Schulbücher zwischen nationaler und föderaler Geschichtsschreibung.

In Kasan, der Hauptstadt der Republik Tatarstan, trafen sich Wissenschaftler zu einer Konferenz mit dem etwas sperrigen Titel «The Contemporary Russian Historical Science: Prospect of Research and Realization of a National Educational Policy». Ein Schwerpunkt waren Debatten über die Inhalte im Geschichtsunterricht, um Xenophobie sowie nationalistische und rassistische Intoleranz in der multinationalen Gesellschaft der Russländischen Föderation abzubauen.

Die Republik Tatarstan ist eines von 85 Föderationssubjekten der Russländischen Föderation. Unter den 21 Republiken im Föderationsverband ist sie wohl eine der interessantesten und prosperierendsten, im ökonomischen aber auch im politischen Sinne.

Zu diesem Treffen im April diesen Jahres hatten das Institut für Geschichte „Š. Mardžani“ der Akademie der Wissenschaften Tatarstans, das Bildungsministerium und der Verband der Geschichtslehrer Tatarstans Historiker, Soziologen, Didaktiker und Politiker geladen, unterstützt von ISHD, der `International Society for History Didactics` und EUROCLIO, der `European Standing Conference of History Teachers’ Associations`.

Die Beiträge der KongressteilnehmerInnen boten einen Überblick über den Stand des Lehrens von Geschichte aus russländischer, europäischer und asiatischer Perspektive sowie einem `Weltblick` darauf. Abhebend auf Resultate von Analysen des Geschichtsunterrichtes der Russländischen Föderation wurde generell auf die positive Erfahrung mit multikulturellen Ansätzen weltweit aufmerksam gemacht. Diskutiert wurde die Rolle des Geschichtsunterrichts bei der Prävention und dem Überwinden von interethnischen und interreligiösen Problemen in der Gesellschaft der Russländischen Föderation. Ein wichtiger Streitpunkt war in dem Kontext der Beschluss des Bildungsministeriums in Moskau über die Einführung eines landesweiten Religionsunterrichts, was von nichtrussischen Völkern als Propagierung orthodox-slawischer Mehrheitskultur verstanden wird. Deshalb lag ein Focus der Veranstaltung auf der Analyse von Darstellungen islamisch-christlicher Beziehungen in den russländischen Schulbüchern und methodologische Aspekte bei deren Erstellung.

Ziel der Veranstaltung war es weiterhin, die Positionen der Historiker aus dem Wolga-Ural-Gebiet mit jener von Wissenschaftlern föderaler Institutionen etwa aus Sankt Petersburg und Moskau zu vergleichen, zu diskutieren und Lösungsmöglichkeiten für den inner-russländischen Schulbuchstreit aufzuzeigen. Und tatsächlich prallten die Sichtweisen von einigen Fachleuten aus dem föderalen Zentrum Moskau und der Peripherie unversöhnlich aufeinander. Der Schulbuchstreit, der zur Zeit in der Russländischen Föderation ausgefochten wird, konnte in Kasan live miterlebt werden. Worum geht es? Die einzelnen Subjekte der Russländischen Föderation – Republiken, Gebiete und Bezirke – haben die Möglichkeit, eigene regionale Schulbücher zu erstellen, die jedoch von den Zentralbehörden genehmigt werden müssen. In diesen Zentralen herrscht oft noch eine russische Sichtweise auf die Geschichte, nicht – wie von den Wissenschaftlern der „Peripherie“ gefordert – eine russländische Perspektive.

Gerade auch bei der Wahl der Adjektive für Institutionen oder administrative Einheiten entfachte sich ein alter Streit. Während tatarische und baschkirische Wissenschaftler viel Wert auf die Bezeichnung rossiskij (russländisch) legten, rutschte Gästen aus Moskau schon einmal ein russkij (russisch) heraus. In den Augen der muslimischen Wissenschaftler offenbarte sich so der immer noch vorhandene imperiale Geist des Zentrums. Rossijskaja Federatsija heißt wörtlich übersetzt ‚Russländische Föderation‘ (von Rossija ‚Russland‘) und nicht, Russische Föderation‘. Man hatte sich bei der Wahl der Staatsbezeichnung bewusst nicht für Russkaja Federatsija (‚Russische Föderation‘) entschieden, um auch die nicht-russischen Ethnien einzubeziehen. Ist von dem russischen Volk oder der russischsprachigen Kultur die Rede, spricht man daher im Russischen von russkij (‚russisch‘). Ist dagegen von den Staat Russland betreffenden Sachverhalten die Rede, verwendet man das Adjektiv rossijskij (‚russländisch‘). Auch die amtliche Übersetzung der Staatsverfassung verwendet diese Variante.

Für manche Gäste aus Westeuropa dürfte die Offenheit und Heftigkeit der Debatten während der Panels und auf den Gängen überrascht haben. Doch ging es hier ja um die grundsätzliche Sichtweise von Historikern auf die eigene – tatarische, baschkirische oder russische – und auf die gemeinsame – russländische – Geschichte sowie deren Darstellung in den Geschichtsbüchern. Und auch innerhalb der Republik Tatarstan wird unterschieden zwischen der Geschichte der Republik – tatarstanische Geschichte – und der Geschichte der Nation – tatarischer Geschichte. Während einige Wissenschaftler des Zentrums noch immer der sowjetischen Maxime folgen, es gäbe – wenn überhaupt – nur eine tatarstanische Geschichte, jedoch keine tatarische, insistierten Wissenschaftler der Minderheitenvölker explizit auf die eigene Geschichte, als etwas Selbständiges. Der Leiter des „Zentrums zur Erforschung vaterländischer Kultur am Institut Russländischer Geschichte der Russländischen Akademie der Wissenschaften“, Alexander Golubev, verstieg sich in den hitzigen Diskussionen zu der Feststellung, die Tataren und Mongolen hätten überhaupt keine erwähnenswerten historischen Leistungen vollbracht. Ihnen fehle schlicht die Hinterlassenschaft von kulturellen Werten im Sinne von architektonischem, kunstgewerblichem oder literarischem Erbe, um in Schulbüchern erwähnt zu werden. Dies forderte scharfe Entgegnungen von einheimischen Historikern heraus. Der baschkirische Vertreter Rushan Gallymov betonte, dass man endlich einsehen möge, das die russländische Geschichte bis in das 16. Jahrhundert hinein vor allem auch die Geschichte der Turkvölker gewesen sei: Kiptschaken, Kumanen, Petscheneken, Tataren, Bulgaren und andere Turkvölker hätten die Gebiete von Odessa bis zum Aralsee besiedelt und deren Geschicke bestimmt. Die Geschichte der Turkvölker sei nicht auf das `Tatarenjoch´ zu reduzieren. Dieser Eindruck entstehe jedoch, wenn man föderale Schulbücher aufschlage, so Marat Gibatdinov, Historiker und Vorsitzender des Geschichtslehrerverbandes Tatarstans. Die Geschichtsbücher der Föderation malten ein Bild einer rein russischen Vergangenheit und auch die von Moskauer Institutionen herausgegebenen Regionalschulbücher lassen die ethnischen und religiösen Minderheiten nur am Rande in Erscheinung treten. Ein krasser Gegensatz zur multiethnischen und multikonfessionalen Realität im Lande, wo die Tataren bereits die Ukrainer als zahlenmäßig stärkste Minderheit abgelöst hätten. Sie stellen mit fast 6 Millionen Menschen circa vier Prozent der Bevölkerung.

In engagierten Plädoyers für eine ausgewogene objektive Weltsicht auf die turko-tatarisch-slawische Geschichte der eurasischen Landmasse beteiligten sich Rais Shaikhelislamov, Minister für Bildung und Wissenschaft Tatarstans, der Direktor des Instituts für Geschichte der Akademie der Wissenschaften Tatarstans, Rafael Khakimov und Mirkasim Usmanov, sein Stellvertreter.

Shaikhislamov betonte dabei, dass es bereits Ansätze für eine ausgewogenere Darstellung der Geschichte gäbe und dass es rechtlich schon heute möglich sei regionale Schulbücher individuell auf die Regionen abgestimmt zu erstellen, die die ethnische und kulturelle Gegebenheit der Region reflektieren. In dem Zusammenhang sollten die positiven Erfahrungen aus Deutschland beachtet werden, wo nationale Minderheiten Unterrichtsgegenstand seien. In russländischen föderalen Schulbüchern jedoch werden bis heute andere Ethnien denn die russische komplett ausgeblendet. Shaikhelislamov kritisierte scharf die beharrliche Verweigerung von Anerkennung der multiethnischen Realität in der Russländischen Föderation seitens des Zentrums und seiner Bildungsbehörden.

Vertreter von Hochschulen und Lehrerverbänden des Wolga-Ural-Gebietes unterstützten vehement dessen Wunsch nach Einrichtung eines „Russländischen Forschungszentrums für Pädagogik und Methodik“ um neue föderale Schulbücher zu entwickeln, die mit den neuesten Methoden und Erfahrungen des Geschichtsunterrichts in anderen multikulturellen Gesellschaften sowie moderner Geschichtsdidaktik korrespondieren. Entwickelt wurde ein entsprechender Antrag zusammen mit dem Institut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften Tatarstans.

In dem Zusammenhang fanden die Vorträge von Luigi Cajani „Pour un enseignement transculturel de l’histoire de l’humanité“ und „Towards a European History Textbook? Contemporary Textbook Research Beyond a Bilateral (National?) Perspective” von Simone Lässig starke Beachtung. Ein Kooperationsabkommen des GEI mit dem Institut „Šaibuddin Mardžani“ über den Austausch und gemeinsame Forschung auf dem Gebiet der Geschichtsdidaktik-, Methodik und Schulbuchproduktion wurde daher unter starkem Applaus der über 150 Wissenschaftler unterzeichnet. Mirkasim Usmanov, Vizepräsident der Akademie der Wissenschaften Tatarstans unterstrich die Bedeutung des Abkommens: „Nur durch respektvollen Umgang mit der Geschichte des Eigenen und des Anderen als gemeinsamer Geschichte unter Berücksichtigung der Erfahrung anderer Länder können wir für eine friedlichere Zukunft arbeiten – mittels Schulbüchern, die eine multireligiöse, multiethnische Realität anerkennen. Durch den objektiven Blick in die Vergangenheit für die Zukunft lernen!“

Mieste Hotopp-Riecke, Kasan/Berlin

Aus: Eckert – Das Bulletin, Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung, Braunschweig, Nr. 2 / Winter 2007, S. 42-45.

Mehr Informationen unter: http://tataroved.ru/actions/kongress/



Zurück aus der Verbannung – Krimtataren ringen um Gleichberechtigung
Mai 9, 2008, 7:52 am
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(Aus: pogrom – zeitschrift für bedrohte völker, Bozen, Italien: Society for threatened people, Nr. 244/245 (5-6, 2007), S. 35/37.



Vom Gerichtsflur auf die Bühne und zurück
Mai 9, 2008, 7:30 am
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Der kurdische Protestmusiker Ferhat Tunç spielte und diskutierte in Berlin

Von Anja Hotopp

„Merhaba“ heißt »Guten Tag« auf türkisch. Wenn Ferhat Tunç es zu Beginn seiner Konzerte singt, klingt es wie die Aufforderung, etwas zu bewegen. Das ist auch das Ziel des kurdischen Protestmusikers und Autoren. In der Türkei ist er ein Popstar, der den gesellschaftlichen Wandel seines Landes beschleunigen will. Letzte Woche war er als Aktivist von »Freemuse« in Berlin. Diese internationale Musikerinitiative setzt sich für zensurfreie Kunst ein. Erst gab Tunç zusammen mit Hans-Eckardt Wenzel und Konstantin Wecker ein Konzert in der Passionskirche, dann diskutierte er bei der Heinrich-Böll-Stiftung über die politische Zensur in der Türkei.

Für die türkischen Machthaber, das heißt sowohl für die islamische Regierung als auch für die kemalistische Justiz, gilt Tunç als Vertreter der gefürchteten drei K: Kurde, Kommunist und Kzlbas (Rotkopf). Letzteres ist die Bezeichnung für die große Religionsgruppe der Aleviten in der Türkei. Dabei geht es Tunç in seinen Liedern, die er auf türkisch und kurdisch singt, um Solidarität und Verständigung. Das meint er ganz praktisch. Letztes Jahr übergab er zusammen mit dem Filmemacher Umur Hozatl einen von der kurdischen Guerilla gefangenen türkischen Soldaten den Behörden – zur Erleichterung der Familie des Soldaten. daraufhin wurde er wegen staatsfeindlichem Verhalten angeklagt. Zur Zeit sind fünf Verfahren gegen ihn anhängig. Sei es, weil er in einer Zeitungskolumne für die Freilassung von Leyla Zana eintrat, der Ikone der kurdischen Demokratiebewegung, die zehn Jahre im Gefängnis saß, weil sie es 1991 gewagt hatte, als frischgewählte Parlamentarierin ihren Amtseid auf türkisch und kurdisch zu sprechen, oder sei es wegen der Songtexte seiner erfolgreichen Protestmusik.

Ein Lied von Hans-Eckardt Wenzel heißt »Die Zeit der Irren und Idioten«. Bei ihrem gemeinsamen Konzert am Donnerstag erinnerte Tunç mit einem armenischen Stück an seinen ermordeten Freund, den armenisch-türkischen Journalisten Hrant Dink. Andere Lieder handelten vom Todesfasten der politischen Gefangenen und von der Zerstörung der kurdischen Landschaft. Unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung werden Dörfer entvölkert, Bergwälder abgeholzt und Flüsse aufgestaut. Als er eines der bekanntesten Lieder von Ahmet Kaya anstimmte, war das Publikum begeistert. Kaya war der König der türkischen Protestpoeten. Der Marxist wurde außer Landes getrieben und starb 2000 im Pariser Exil nach einem Herinfarkt.

Tunç besitzt die deutsche Staatsbürgerschaft. Als er 15 war, kam er mit seiner Familie nach Rüsselsheim. Erst sechs Jahre später kehrte er in die Türkei zurück. Anfang der 80er Jahre lernte er in Frankfurt/Main den US-Musiker Darnell Summers kennen, einen Jazz-Drummer und Vietnam-Veteranen, der für einen angeblichen Polizistenmord unschuldig im Gefängnis gesessen hatte und nach einer internationalen Solikampagne freigekommen war. Mit Summers tourte Tunç in einer amerikanisch-griechisch-kurdischen Band durch Europa. Überraschend betrat auch Summers am Donnerstag die Bühne und schmetterte mit Wenzel, Tunç und Wecker »Bella Ciao« auf türkisch, deutsch und italienisch.

Am Freitag saß Tunç dann in der Heinrich-Böll-Stiftung und diskutierte mit dem Islamwissenschaftler Udo Steinbach und dem grünen Europaparlamentarier Cem Özdemir die aktuelle türkische Politik. Regelmäßig kollidiert er mit dem türkischen Strafgesetzbuch, dessen Gummibandparagraphen gegen ihn ausgelegt werden. Konnte beispielsweise der frühere Putschgeneral und Staatspräsident Kenan Evren mit beginnender Altersweisheit öffentlich Türkei – Kürtei (Kürt = türkisch für Kurde) reimen, hätte ein solches Wortspiel für Tunç wahrscheinlich ein neues Verfahren nach sich gezogen, meinte Steinbach. Trotzdem seien die politischen Verhältnisse in der Türkei unübersichtlicher, als man hierzulande gemeinhin annimmt. So gebe es in der angeblich sozialdemokratischen CHP kaum Sozialdemokraten und in der Regierungspartei AKP nicht nur islamische Hardliner, aber gewiß auf beiden Seiten stramme türkische Nationalisten. Laut Özdemir sei das für Außenstehende kaum nachvollziehbar.

Sicher ist nur, daß es in der Türkei brodelt. Für Regierungschef Recep Tayip Erdogan sind Kopftücher wichtiger als die Kurdenfrage. Kommt er nach Deutschland, warnt er die hier lebenden Türken vor der Assimilation, während türkisches Militär wieder einmal in die kurdischen Berge zieht, um »terroristische PKK-Zellen« auszuheben. Innenpolitisch werden die Daumenschrauben derzeit wieder fester angezogen, was vor allem Künstler und Intelektuelle, Aleviten und Kurden zu spüren bekommen. Währenddessen steht die Regierungspartei AKP kurz davor, höchstrichterlich für illegal erklärt zu werden, weil sie für den kemalistischen Staat zu religiös ist. Nach Steinbach wird sie innerhalb der nächsten sechs Monate verboten. Und dann? Dann singen alle im Chor: »Das ist die Zeit der Irren und Idioten.« Auf der Bühne in der Passionskirche fragte Wenzel, ob dies nicht die Chance für eine politische Globalisierung neuer Art sein könnte: In Polen sei gerade eine Regierung frei, die wäre zwar nicht besser, aber billiger.

(Aus: junge Welt, 08.04.2008 / Feuilleton / Seite 13)